Hass und Vorurteile abbauen: Antisemitismus begegnen

Wenn auf Schulhöfen „Jude“ zum Schimpfwort avanciert und Kinder und Jugendliche sich nicht mehr trauen, offen zu ihrem jüdischen Glauben zu stehen, ist es höchste Zeit über Antisemitismus zu reden. Wie können Lehrer*innen helfen, Hass und Vorurteile abzubauen?

Antisemitismus ist auch im Jahr 2017 ein akutes Problem. Aktuelle Untersuchungen weisen darauf hin, dass knapp ein Viertel der deutschen Bevölkerung latent antisemitische Einstellungen teilt. Dabei ist Antisemitismus nicht nur ein Problem bestimmter Randgruppen, sondern ebenso eines der gesellschaftlichen Mitte. Kennen aber die, die diesen Einstellungen anhängen, jüdische Menschen eigentlich persönlich? Haben die, die antisemitische Vorurteile pflegen, je Kontakt zu jenen gehabt, über die sie ihr Urteil fällen? Das dürfte unwahrscheinlich sein – der Anteil der Menschen jüdischen Glaubens an der deutschen Bevölkerung beträgt lediglich 0,24 Prozent. Im öffentlichen Leben sind jüdische Religion und jüdische Kultur kaum präsent.
Dabei ist erwiesen, dass eben genau der persönliche Kontakt das beste Mittel ist, Vorurteilen und Stereotypen entgegenzuwirken. Was hilft, sind die Begegnung und das Kennenlernen. Wenn Kinder und Jugendliche überhaupt mit dem Judentum in Kontakt kommen, geschieht dies in den allermeisten Fällen über Bildungseinrichtungen. Dabei sollte die Erinnerung an den Holocaust in Schule und Unterricht selbstverständlich sein. Nur darf die Folge nicht sein, dass Jüd*innen lediglich als Opfer gesehen und jüdische Geschichte und jüdisches Leben auf die Geschichte der Shoa reduziert werden. Wie können also darüber hinaus in der pädagogischen Arbeit Begegnungen mit jüdischer Religion, jüdischer Kultur und jüdischem Leben möglich gemacht werden? Zahlreiche Projekte in NRW machen das Kennenlernen möglich und unterstützen interessierte Lehrkräfte.

Alte Synagoge Essen: Eindrucksvolle Kulisse

Die Alte Synagoge in Essen ist ein eindrucksvolles Gebäude – das größte freistehende Synagogengebäude nördlich der Alpen. Bereits die Geschichte des Hauses eröffnet einen Zugang zu Vergangenheit und Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland. 1913 als „Neue Synagoge“ eingeweiht und während der Novemberpogrome am 9. November 1938 zerstört, wurde das Gebäude anschließend nie wieder als Synagoge genutzt. Die Ruine stand nach Kriegsende zunächst leer und wurde dann unter dem Namen „Haus Industrieform“ zweckfremd genutzt: als Ausstellungsstätte für Industriedesign. Erst in den 1980er Jahren gelang es, den alten Synagogenraum zu rekonstruieren und eine Ausstellung einzurichten. Heute versteht man sich ausdrücklich als kulturelles Begegnungszentrum.
Fünf Ausstellungsbereiche widmen sich unter anderem der jüdischen Tradition, jüdischen Festen und dem jüdischen „Way of Life“. Dabei ist den Ausstellungsmacher*innen daran gelegen, ungewöhnliche Einblicke in jüdische Lebenswelten zu bieten und jüdische Lebenskultur fernab bestehender Klischees zu präsentieren. Neben der Dauerausstellung und wechselnden Sonderausstellungen gehören Angebote zur jüdischen Kultur zu den Programmschwerpunkten der Alten Synagoge Essen. Auch wenn das Gebäude nicht mehr von der jüdischen Gemeinde genutzt wird, richten sich auch heute noch antisemitische Angriffe gegen die Alte Synagoge, die aus diesem Grund auch unter besonderem polizeilichen Schutz steht.

Rent a Jew: Mit Humor und ein bisschen Chuzpe

„Deinen ersten vergisst Du nie.“ Mit diesem Motto macht das Projekt „Rent a Jew“ auf sich aufmerksam. Aus der Überzeugung heraus, dass es insbesondere persönliche Begegnungen sind, die nachhaltige Lernerfahrungen ermöglichen, vermittelt die Initiative jüdische Menschen verschiedenen Alters und Hintergrundes für Besuche in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. „Rent a Jew“ will dazu beitragen, miteinander statt übereinander zu reden, Fragen auf beiden Seiten zu beantworten und Vorurteile abzubauen.
Der Name der Initiative ist bewusst provokativ gewählt. Die Initiator*innen erklären dies so: „Warum ‚Rent a Jew‘? Autos kann man mieten, aber Juden? Das mag zunächst verletzend klingen. Schließlich behaupten Antisemit*innen seit Hunderten von Jahren, dass Juden weniger wert seien als andere Menschen. Wir sind es leid, solche Zuweisungen zu hören. Und wir glauben, dass Humor gemischt mit ein bisschen Chuzpe das beste Mittel ist, um alte Klischees und Vorurteile zu widerlegen und zu zeigen, wie absurd sie sind.“ Natürlich fällt keine Mietgebühr an, die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich, lediglich über eine Erstattung eventuell entstehender Fahrtkosten freut man sich. Die Initiative vermittelt dabei nicht nur passende Gesprächspartner*innen, sondern berät auch bei der Themenwahl und hilft bei der Vorbereitung der Besuche.

Jüdisches Museum Westfalen: Kultur zum Mitmachen

Auch im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten gibt es vielfältige Möglichkeiten, das Judentum kennenzulernen. Der private Trägerverein des 1992 gegründeten Hauses macht es sich zur Aufgabe, die Spuren jüdischen Lebens in Westfalen nachzuzeichnen und sie zu bewahren. Das Museum ist ausdrücklich als „Lernhaus“ angelegt und will zum Verstehen des Judentums, seiner Religion und Kultur beitragen. In der sehenswerten Ausstellung können Besucher*innen etwas über die Grundbegriffe des Judentums erfahren, jüdischen Lebenswegen in Westfalen nachspüren und sich über den Neubeginn jüdischen Lebens in Westfalen nach der Shoa informieren. Daneben bietet das Museum zahlreiche pädagogische Angebote, die sich um die jüdische Kultur drehen, darunter zum Beispiel auch Tanz- und Kochworkshops. Für Lehrer*innen führt das Museum maßgeschneiderte Fortbildungsangebote durch, etwa zu Abiturthemen, in denen das Judentum eine Rolle spielt.

Jüdische Gemeinden: Besuche vor Ort

Vor Ort bieten jüdische Gemeinden und die in zahlreichen Städten NRWs aktiven Gesellschaften für jüdisch-christliche Zusammenarbeit pädagogische Angebote an. In Gelsenkirchen etwa heißt die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Judith Neuwald-Tasbach, regelmäßig Schüler*innengruppen in der Neuen Synagoge willkommen. Sie hält diese Besuche für äußerst geeignet, um Kindern und Jugendlichen einen lokalen Einblick in die jüdische Welt und die Erinnerung an das Dritte Reich zu geben. Schüler*innen sollen, so Judith Neuwald-Tasbach, „die Geschichte damaliger jüdischer Jugendlicher aus ihrer Stadt kennenlernen, die irgendwann einfach ‚verschwunden‘ sind, und sich auch Einblick verschaffen in das heutige jüdische Leben. In die jüdische Religion und Kultur, in die Riten und die Speisegesetze, und auch in die Sorgen, die jüdische Menschen heute in Deutschland wieder haben.“ Zu diesen Sorgen gehöre, so erzählt Judith Neuwald-Tasbach weiter, dass jüdische Jugendliche erleben müssten, dass das Schimpfwort „du Jude“ immer häufiger gebraucht werde und sie ausgegrenzt würden, wenn sie ein Käppchen oder einen Davidstern tragen. Manche jüdische Schüler*innen wollten nicht einmal, dass die Zensur für das Fach Jüdische Religion im Zeugnis erscheint – aus Angst davor, dass die Mitschüler*innen erfahren, dass sie jüdisch sind. Die jüdischen Gemeinden öffneten sich auch deshalb für den Besuch von Schulen und Interessierten, erklärt die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchens: „Wir alle haben die Hoffnung, dass es eines Tages ganz normal ist, als Jude in Deutschland zu leben.“ Zusätzlich zu der Möglichkeit, die Neue Synagoge zu besuchen, bietet die Gelsenkirchener Gemeinde ein umfangreiches Bildungs- und Kulturprogramm an, welches Einblicke in jüdische Geschichte und Gegenwart bietet. In Kooperation mit der Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit werden etwa Stadtführungen veranstaltet, die die Spuren jüdischen Lebens in der Ruhrgebietsstadt sichtbar werden lassen.

Gute Vor- und Nachbereitung sind ein Muss

So wertvoll Begegnungsveranstaltungen sind – sie stellen leider kein Allheilmittel gegen Antisemitismus dar und können selbst einige Fallstricke bieten. So kann es auch bei gut gemeinten Projekten dazu kommen, dass andere erst zu anderen gemacht oder Vorurteile unbeabsichtigt verstärkt werden. Um das zu vermeiden ist eine gute Vor- und Nachbereitung pädagogischer Vorhaben in diesem Themenbereich unabdingbar. Methoden hierzu und weitere Empfehlungen für die pädagogische Arbeit bietet die hervorragende Broschüre „Weltbild Antisemitismus – Didaktische und methodische Empfehlungen für die pädagogische Arbeit in der Migrationsgesellschaft“  des Bildungszentrums Anne Frank, die zum kostenfreien Download zur Verfügung steht.


Florian Beer
ist Mitglied der AG Friedenspädagogik und der Fachgruppe Erwachsenenbildung der GEW NRW.

Illustrationen: Julia Korchevska, RaSveta / shutterstock.com

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