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Wissenslücken bei Jugendlichen Warum deutsche Schulen so wenig Politik lehren

Viele Schüler wissen über Politik erschreckend wenig. Liegt das auch an den Lehrplänen? Forscher aus Bielefeld haben auf diese Frage eine eindeutige Antwort.
Schüler im Unterricht

Schüler im Unterricht

Foto: Felix Kästle/ picture alliance / Felix Kästle/dpa

Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Politik oder Gesellschaft - wie das Schulfach heißt, in dem politische Bildung vermittelt wird, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Gern wird es auch in sogenannte Sammelfächer verpackt, zum Beispiel Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung/Wirtschaft in Sachsen oder Politik/Gesellschaft/Wirtschaft in Hamburg. Vor allem die Kopplung von Politik und Wirtschaft wird immer beliebter. Aber was bedeutet das für die Schüler? Und erfahren Sie noch genug über Demokratie?

Vor wenigen Monaten hatte eine repräsentative Umfrage der Körber-Stiftung ergeben, dass vier von zehn Schülern nicht wissen, wofür Auschwitz steht. Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt, sieht da einen Zusammenhang.

"Das ist ein klares Zeichen, dass die politische Bildung mehr Raum braucht", sagt er. In den Schulen finde gerade ein Verdrängungswettbewerb statt: "Politische Bildung wird zugunsten ökonomischer Bildung geopfert. Schüler sollen nur noch lernen, was einen konkreten Nutzen für ihre spätere Berufstätigkeit hat."

Auch Sven Tetzlaff, Leiter des Bereichs Bildung der Körber-Stiftung, sieht diesen Trend. "Der Fokus des Unterrichts liegt zunehmend auf Verwertbarkeit, auf sofort anwendbaren Fähigkeiten. Und es werden immer mehr Fächer gefordert, von Wirtschaft bis zu Technik oder gar Glück. Ein 'immer mehr' ist aber keine Lösung." Denn jedes neue Fach heißt: weniger Zeit für ein altes.

Quiz: Das Fach gibt's nicht. Oder doch?

Verdrängen also Aktiensparpläne Auschwitz vom Stundenplan? Dieser Frage geht ein Forscherteam der Uni Bielefeld nach. Die Wissenschaftler untersuchen bundesweit den Stellenwert politischer Bildung im Schulunterricht. Im ersten Schritt analysieren sie die Verteilung der Unterrichtszeiten auf die einzelnen Fächer. Im zweiten Schritt schauen sie sich die Lehrpläne an und ordnen die konkret vorgeschriebenen Themen jeweils den Feldern Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft zu.

Für Nordrhein-Westfalen haben sie schon Ergebnisse  - und die bestätigen Engartners Befürchtungen:

  • Für politische Themen bleiben im Unterricht in der Sekundarstufe I (Klasse 5 bis 10 bei Gesamt- und Realschulen und Klasse 5 bis 9 bei Gymnasien) pro Woche nur 17 bis 20 Minuten.

  • Rein rechnerisch hat jeder Schüler pro Woche 20 Sekunden Zeit, um seine politische Position vorzutragen oder darüber zu diskutieren.

  • Im Fach "Politik/Wirtschaft" an Gymnasien machen politische Themen weniger als 32 Prozent des Unterrichts aus.

  • Auch an Gesamt- und Realschulen werden im Fach "Politik" wirtschaftliche Themen weit ausführlicher besprochen als gesellschaftliche Themen.

  • Kein anderes Fach wird so oft von fachfremden Lehrern unterrichtet wie "Politik" und "Politik/Wirtschaft".

"Das hat uns selbst überrascht", sagt Studienleiter Reinhold Hedtke. "Wir hatten erwartet, dass überall, wo Politik draufsteht, auch überwiegend Politik drin ist, aber dem ist nicht so. Unsere Studie hat ergeben, dass politische Themen an Gymnasien weniger als ein Drittel und an Realschulen und Gesamtschulen weniger als zwei Fünftel der durchschnittlichen Unterrichtszeit des Schulfachs ausmachen."

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Am bundesweiten Vergleich arbeiten Hedtke und sein Team noch, aber ein zentrales Ergebnis kann er schon nennen: "Es gibt dramatische Unterschiede zwischen den Bundesländern. Der Umfang, den politische Bildung in den Lehrplänen einnimmt, unterscheidet sich etwa um den Faktor acht."

Wie schwierig ein solcher Vergleich ist, verdeutlicht ein Streit um Zahlen der Konrad-Adenauer-Stiftung . Sie hatte 2013 versucht auszurechnen, wie viele Unterrichtsstunden in politischer Bildung ein Schüler über die gesamte Schulzeit hinweg erteilt bekommt. Das Ergebnis: Schüler in Sachsen haben bis zur Mittleren Reife nur 50 Stunden Gemeinschaftskundeunterricht, Schüler in Nordrhein-Westfalen dagegen 250 Stunden.

Anzahl der insgesamt erteilten Unterrichtsstunden in der unmittelbaren schulischen politischen Bildung während einer Schullaufbahn (Stand: August 2013)

Anzahl der insgesamt erteilten Unterrichtsstunden in der unmittelbaren schulischen politischen Bildung während einer Schullaufbahn (Stand: August 2013)

Foto: Konrad-Adenauer-Stiftung

Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags verwendete die Grafik 2016 in einer Analyse zum schulischen Politikunterricht , die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion "Die Linke" nannte die Zahlen erst kürzlich in einer Landtagsdebatte zur politischen Bildung in Sachsen. Doch auf Nachfrage des SPIEGEL distanzieren sich so gut wie alle Länder von dem Ranking.

"Die Analyse vergleicht Äpfel mit Birnen", sagt Dirk Reelfs, Sprecher des sächsischen Staatsministeriums für Kultus. Für Sachsen seien lediglich die Wochenstunden für das Fach "Gemeinschaftskunde/Rechtserziehung/Wirtschaft" gezählt worden, in Nordrhein-Westfalen dagegen die des Fachs "Gesellschaftslehre". Dieses umfasse aber auch Geschichte und Geografie, zwei Fächer, die in Sachsen separat unterrichtet werden. Zähle man diese dazu, sei die politische Bildung in Sachsen sogar umfangreicher als die in Nordrhein-Westfalen.

Zählt Geschichte als Fach der politischen Bildung? Und geht es auch nicht in Erdkunde um Politik - und um Wirtschaft? Wo lassen sich die Grenzen ziehen?

Hedtke ist sich dieser Definitionsschwierigkeiten bewusst. "Kultusministerien verweisen in diesem Zusammenhang gern darauf, dass politische Bildung ja auch in anderen Fächern vermittelt werden soll. Das stimmt, solche Erlasse gibt es", sagt er. "Trotzdem lassen sich die harten, objektiven Fakten ja nicht wegdiskutieren: Wenn politische Bildung nur einen kleinen Teil des Politikunterrichts ausmacht, wird dies auch auf andere Weise nicht kompensiert."

Und Tim Engartner weist noch auf eine andere Ungleichheit hin: "Der Wirtschaftsunterricht hat eine starke Lobby, für das Fach Politik setzt sich sichtbar beinahe nur die Bundeszentrale für politische Bildung ein."

SPIEGEL TV Thema: "SOS Schule - Bildungsnotstand in Deutschland"

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